Die Flüchtlingshilfe für Lesbos erhält den Solinger Agenda Preis 2019

Konstantin Eleftheriadis gibt im Gespräch mit Monika Janßen vom Diakonischen Werk Einblicke in seine Arbeit für die Flüchtlingshilfe

13. Oktober 2020

 

Unser langjähriger Mitarbeiter Konstantin Eleftheriadis und seine Frau Ionna Zacharaki haben am 19.09.2020 den Solinger Agenda Preis für ihr außerordentliches Engagement in der Flüchtlingshilfe auf Lesbos erhalten.


 

Ionna Zacharaki und Superintendentin Dr. Ilka Werner nach der Agenda Preisverleihung
Wortbeitrag von Ionna Zacharaki auf der Preisverleihung

 

 

Interview

Lieber Konstantin, ich gratuliere dir und deiner Frau herzlich zur Verleihung des Solinger Agenda Preises 2019!

Die geplante Agenda Preisverleihung am 05.09.2020 fiel aufgrund der Familientragödie an der Hasseldelle aus.

Der zweite Termin am 19.09.2020 stand schließlich im Schatten des Großbrandes im Lager Moria, der sich zehn Tage zuvor ereignete. Trotz dieses tragischen Ereignisses konnte deine Frau an diesem Tag den Solinger Agenda Preis 2019 für euer jahrelanges außerordentliches Engagement in der Flüchtlingshilfe auf Lesbos entgegennehmen. 

Normalerweise ist eine Preisverleihung ein Anlass zum Feiern, aber deine Gefühlswelt war an diesem Tag sicherlich eine ganz andere?

Die Gefühlswelt ist natürlich belastet. Die Situation auf Lesbos …die ganzen Bilder…zu sehen, was da los war… Das war jedoch nicht der Grund, warum ich nicht dabei war. Natürlich ist das für jemanden, der dort aufgewachsen ist, dessen Elternhaus etwa 5 km Luftlinie von dem Dorf Moria entfernt ist und die ganzen Bilder, die ganze Geschichte, die ganze Entwicklung verfolgt und kennt, nicht schön. Auch nicht, wenn die ganze Insel mit dem Camp Moria gleichgesetzt wird und Parallelen gezogen werden mit dem Gefängnis Guantanamo.

Auf der anderen Seite verstehe ich die Preisverleihung als Anerkennung der Arbeit unserer Kooperationspartner. Vieles hätten wir nicht bewerkstelligen und umsetzen können, wenn wir diese Organisationen nicht hätten. Sie haben geduldig die ganze Arbeit gemacht. Wir haben das Programm durch die Spendenaktionen ermöglicht, aber es ist wichtig, die lokale Arbeit vor Ort zu stemmen. Die Organisationen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, arbeiten alle ehrenamtlich. Die gesamte finanzielle Hilfe geht somit 1:1 zu Gunsten der Geflüchteten. Es werden keine Gelder für Verwaltungsaufgaben oder anderes verwendet. Das ist uns sehr wichtig, dies deutlich zu machen.

 

Du sagst, dass alle Helfer ehrenamtlich tätig sind. Wird vor Ort noch personelle Unterstützung benötigt?

Viele namentliche Akteure sind nach wie vor auf der Insel aktiv, in Nichtregierungsorganisationen und auch in den noch vorhandenen Flüchtlingslagern. Wegen der momentanen Unruhen und vor allem auch wegen Corona ist die Lage momentan rund um Moria nicht ungefährlich. Deshalb sollten Menschen, die nach Lesbos kommen, um zu helfen, sehr vorsichtig sein. Personelle Unterstützung wird in erster Linie im medizinischen Bereich benötigt. Ärzte und Pflegepersonal werden dringend vor Ort gebraucht. Die meisten unserer Helfer und lokalen Kooperationspartner haben ein Alter, mit dem sie zu einer Risikogruppe gehören. Trotzdem setzen sie ihre Arbeit weiterhin fort.

 

Wie sieht die medizinische Versorgung vor Ort aus? Es ist wahrscheinlich ganz viel verbrannt?

Ja, es ist ganz viel verbrannt. Die medizinische Einrichtung, die die holländische Regierung Ende August zur Verfügung gestellt hatte, ist teilweise zerstört worden. Zwei Wochen vor dem Brand war man noch dabei, diese fertigzustellen, sodass sie gar nicht mehr in Betrieb genommen werden konnte. Jedoch konnten die Geräte und ein Teil des medizinischen Versorgungsmaterials, soviel ich weiß, gerettet werden. Natürlich konnte die Einrichtung nicht mehr vor Ort bleiben und ein Teil wurde dem örtlichen Krankenhaus zur Verfügung gestellt. Medizinisches Material, das zur Durchführung von Corona-Tests benötigt wird, ist jetzt im provisorischen Lager und wird dort gebraucht. Vor dem Flüchtlingslager gibt es eine kleine Klinik und eine Kinderambulanz, soviel ich weiß, sind diese gerettet worden. Herr Dr. Zenses hat erzählt, dass auch seine Geräte, die er in der Vergangenheit nach Lesbos gebracht hatte, zerstört worden sind, z. B. ein EKG- und ein Ultraschallgerät. Er wird in den nächsten Tagen wieder nach Lesbos fahren, um ein neues Ultraschallgerät dorthin zu bringen. Im medizinischen Bereich brauchen wir die Unterstützung aus dem Ausland, auch weil die örtlichen Einrichtungen mit diesen Aufgaben strukturell überlastet sind. Bei der Versorgung der Menschen geht es aber nicht nur um körperliche Leiden sondern auch um psychische Leiden, die behandelt werden müssen. Insbesondere die Kinder sind von der Extremsituation sehr stark traumatisiert.

 

Somit sind die medizinische Versorgung aber auch die psychosoziale Versorgung vor Ort wichtig. Wie lange leben denn die Menschen dort? Die Situation ist ja derzeit extrem angespannt, durch Corona und den Brand im Flüchtlingslager.

Es kommt vor, dass Personen dabei sind, die ein Jahr und länger dort leben. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Personen, die kein Asylprofil haben. Diese Personen haben momentan keine Chance, die Insel zu verlassen. Es handelt sich in erster Linie um erwachsene Männer, die teilweise aus der nordafrikanischen Region kommen, aber auch aus asiatischen Ländern, wie z. B. Afghanistan. Der Brand auf Moria hat zutage gebracht, dass 2.000 geflüchtete Menschen „verloren“ gegangen sind. Es war immer die Rede davon, dass im Camp Moria so und so viel tausend Menschen leben. Als nun der neue „provisorische“ Bereich gebaut wurde, in dem die Menschen leider auch unter menschenunwürdige Bedingungen leben, und wieder alle registriert wurden, „fehlten“ plötzlich 2.000 Personen.

 

Welche Erklärung gibt es dafür, dass plötzlich 2.000 Geflüchtete „fehlen“?

Die eine Erklärung ist, dass die Menschen irgendwo auf der Insel verteilt sind. Aber wenn sie in großen Gruppen auftreten würden, würde das auffallen. Die Insel ist zwar groß, aber so viele Menschen können sich nicht so einfach verstecken. Es gibt in der Hauptstadt auch einzelne Wohnungen, die von verschiedenen Organisationen für Flüchtlinge gemietet wurden, im Rahmen verschiedener europäischer Programme. Dort könnte der ein oder andere bei Freunden untergebracht sein. Meine Erklärung jedoch ist, dass viele mit Schiffen von der Insel gebracht wurden und man nicht weiß, wie lange, dass schon her ist. Aber wenn ich die Leute im Hafen sehe – das kennen wir auch so aus anderen europäischen Ländern, z. B. aus Calais – dann weiß ich, dass sie dort warten und versuchen, illegal auf das Schiff zu kommen.

Es gab immer Differenzen zwischen offiziellen Zahlen der Polizei und den offiziellen Zahlen des Flüchtlingskommissariats von 500 Personen, aber die jetzigen 2.000 sind enorm hoch.

 

Wie viele sind dann, wenn man diese 2.000 Menschen abzieht, derzeit vor Ort?

Die Zahlen sind zurückgegangen. Neben dem neuerrichteten Camp gibt es drei weitere Bereiche, in denen die Geflüchteten untergebracht sind. Es gibt Personen, die innerhalb der Stadt wohnen, und es gibt zwei andere Flüchtlingsunterkünfte, die auch etwas besser ausgestattet sind. Das neuerrichtete Camp konnten 1.000 Menschen verlassen, darunter auch die 139 geflüchteten Minderjährigen, die nach Deutschland gebracht wurden. In diesem Lager leben nun noch nach letzter Zählung etwa 8.500 Personen. In den beiden anderen Unterkünften sind 1.100 Personen untergebracht. Das sind Camps für Personen, die einen besonderen Schutz brauchen, wie Kranke und Familien. 600 Minderjährige und allein reisende Frauen sind in gemieteten Wohnungen untergebracht. Insgesamt sind auf der Insel somit ungefähr 10.000 Menschen. 8.500 im Camp und die übrigen 1.500 sind in den anderen Unterkünften. Ziel ist, dass in Kürze noch 700 weitere Menschen die Insel verlassen und dann noch mal 1.500, damit auch das provisorische Camp unter 7.000 fällt. Vorausgesetzt, dass keine neuen Flüchtlinge ankommen. Die Zahlen ändern sich jeden Tag. Mit finanzieller Unterstützung der Bundesregierung und der Europäischen Union soll noch ein neues Camp nach europäischen Maßstäben auf der Insel gebaut werden. Nicht an der Stelle, wo die jetzigen Camps sind, sondern an einer anderen Stelle. Das Lager soll eventuell von der EU selbst verwaltet werden. Auf der Insel gibt es nun die große Diskussion, wo dieses Camp hin soll. Die Menschen vor Ort möchten kein Camp mehr in der Nähe der größeren Städte.

 

Das wird die Versorgungssituation der Geflüchteten auf Lesbos sicherlich verbessern. Aber was würdest du dir als langfristige Lösung vorstellen können? Weiterhin weigern sich viele EU Staaten Flüchtlinge aufzunehmen. Glaubst du, dass es noch eine europäische Lösung gibt? 

Wir warten eigentlich seit Jahren auf die gesamteuropäische Lösung. Der Solidaritätsgedanke, der die EU in ihrer bisherigen Geschichte geprägt hat, ist ihr leider abhandengekommen. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft wird zwar weiterhin versucht, eine Einigung auf europäischer Ebene zu erzielen. Aber ich glaube eigentlich nicht mehr an eine gesamteuropäische Lösung im Sinne einer gerechten Verteilung, allerdings an eine teileuropäische Lösung, dass ein paar Länder, so wie es auch jetzt der Fall ist, zur Entlastung Griechenlands und Italiens beitragen. Aber eine wirkliche grundlegende Änderung des Dublin-Abkommens sehe ich skeptisch. Es muss aber dafür gesorgt werden, dass nicht so viele Menschen auf der Insel sind, um Konfrontationen zwischen den einzelnen Gruppen geflüchteter Menschen unterschiedlicher Herkünfte zu vermeiden als auch das Sicherheitsgefühl der einheimischen Bevölkerung wiederherzustellen. Ich habe auch ein großes Problem mit dem europäischen Abkommen mit der Türkei. Es kann nicht sein, dass Europa von der jeweiligen Situation der Türkei abhängig ist. Wenn man von jemanden erpresst wird, nach dem Motto, „Ich möchte Geld haben, damit ich niemanden nach Griechenland und Europa schicke“ – das ist keine Lösung. Schön wäre natürlich, wenn keine Flüchtlingsströme mehr kämen und Frieden in Syrien und den übrigen Krisengebieten wäre. Aber das ist natürlich momentan unrealistisch.

 

Somit hoffst du auf eine teileuropäische Lösung?

Wir müssen davon ausgehen, dass die Insel immer ein Fluchtort bleiben wird. Allerdings müssen die Menschen unter menschenwürdigen Bedingungen leben können. Geflüchtete Personen aus der Türkei sollen im Rahmen des Türkei-EU-Abkommens die Insel nicht verlassen, bis zum Ende des Asylrechtsprozesses. Das dauert aber zu lange. Das hat dazu geführt, dass die griechischen Inseln quasi zu einem Gefängnis gemacht wurden.  Somit muss es eine Änderung dieses Abkommens insofern geben, dass es nicht zu einem Stau auf der Insel kommt, wenn wieder vermehrt Personen kommen. Die Änderung muss heißen, dass die Menschen auf Lesbos nur aufgenommen und registriert werden. Der Asylrechtsprozess muss dann auf dem Festland geführt werden. Die Menschen sollen nicht länger als einen Monat auf Lesbos bleiben. Deshalb bedürfte es lediglich eines übersichtlichen Aufnahme- und Registrierungszentrums und keiner riesigen Flüchtlingscamps.

 

Du hast erzählt, du kennst die Insel gut und du bist auch auf der Insel geboren.

Hast du Lust, etwas von dir zu erzählen, von deiner Geschichte bzw. deiner Motivation, dich so unermüdlich für die Menschen auf Lesbos einzusetzen?

Ja, wo soll ich anfangen? Das Thema Flucht ist mir aufgrund meiner Familiengeschichte nicht unbekannt. Als ich jünger war, hatte ich dem keine so große Aufmerksamkeit geschenkt. Die meisten Inselbewohner haben eine Flüchtlingsgeschichte. Bei mir und auch bei vielen aktuellen Helfern vor Ort hat irgendein Familienmitglied eine Flüchtlingsgeschichte. Vor 100 Jahren ist meine Großmutter in Folge einer damaligen kriegerischen Auseinandersetzung, bei der es zu einem Bevölkerungsaustausch kam, aus einem kleinen Dorf von der jetzigen türkischen Westküste nach Lesbos geflohen. Die griechisch sprechende christliche Bevölkerung wurde nach dem verlorenen Krieg mit der türkisch sprechenden muslimischen Bevölkerung ausgetauscht. Das war ein großes Verbrechen gegen die Menschenrechte. Sie hat dort einen großen Teil ihrer Familie verloren und kam mit ihrer Schwester nach Griechenland. Diese Geschichte hat für meine innere Entwicklung eine große Rolle gespielt. Ab den 90-er Jahren hat das Thema Flucht wieder Einzug in mein Leben genommen, natürlich unter anderen Bedingungen. Viele Flüchtlinge kamen damals aus Afghanistan nach Lesbos, und diese Geschichte hat sich weiterentwickelt. Wir haben die Menschen gesehen, wie sie mit dem Boot ankamen.


Zu dieser Zeit lebst du aber bereits in Deutschland?

Ich lebte in Deutschland, aber in den Sommermonaten waren wir dort.


Du hast deine Familie dann also besucht und hast die Lage vor Ort dann mitbekommen?

Ja, wie es allmählich immer mehr wurden und die Menschen in Kasernen untergebracht wurden. Man sah, es ändert sich hier etwas. Bis dahin hatte man nicht einmal türkische Besucher auf der Insel gesehen. Aufgrund der Beziehung zwischen der Türkei und Griechenland war es bis in den 1980-er Jahre nicht erlaubt, dass türkische Staatsbürger die Insel betraten. Ab Mitte der 2000-er Jahre haben immer mehr Menschen versucht, nach Griechenland zu kommen. Die Fluchtroute wurde entdeckt und war vergleichsweise einfach zu überqueren, gleichzeitig aber bis heute gefährlich für Menschen, die nicht schwimmen können. Damals begann die Beschäftigung mit der Flüchtlingsfrage vor Ort. Dies hat sich 2008 intensiviert, als das Evangelische Landeskirchenamt aufgrund der Situation auf Lesbos dort eine Asylrechtstagung durchgeführt hat. Damals wurden auch die ersten lokalen Kontakte zu den Organisationen geknüpft, die wir heute auch noch pflegen.


Und da warst du schon mit dabei?

Ja, zusammen mit meiner Frau.


Als du festgestellt hast, dass immer mehr Menschen kommen; war das für dich der Auslöser, dich so außerordentlich für die Flüchtlingshilfe auf Lesbos zu engagieren?

Damals konnte man nicht viel tun, außer die europäische Politik bzw. die europäische Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Für die Geflüchteten vor Ort konnten wir zu diesem Zeitpunkt nichts machen, weil sie in Flüchtlingsgefängnissen untergebracht wurden. Nach einem Jahr hatte sich die Lage auch vor Ort beruhigt, weil andere Fluchtrouten genutzt wurden.  Das Ganze hat sich seit 2015 geändert, als die große Flüchtlingswelle kam. Da begann das Flüchtlingsprojekt auf Lesbos aufgrund der extremen Situation.


Warst du da vor Ort, hast du die Situation direkt mitbekommen?

Wir waren schon im April 2015 vor Ort, bevor die ganze Bewegung begann. Da gab es bereits kleine Gruppen von Menschen, die im Hafen festgehalten wurden. Meine Frau ging zum Kiosk, um Schokolade und Kekse für die Kinder zu kaufen. Zu dem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, was zwei Monate später passieren sollte, da waren es plötzlich 10.000, 20.000 und mehr.


Wart ihr im Juni/Juli 2015, als es richtig losging, auch vor Ort?

Nein, da waren wir in Deutschland und haben es in den Nachrichten gehört. Aufgrund der Beziehungen meiner Frau zur Diakonie RWL hat sie dann bei Freunden und Bekannten nachgefragt, ob sie Geld spenden möchten. Damit wollte man erst einmal die Menschen mit dem Nötigsten versorgen. Das war aber erst nur der Anfang, das war im Juli 2015. Zu diesem Zeitpunkt kam eine Mitteilung von der Rheinhold-Keppler-Stiftung, die von der Diakonie Düsseldorf begleitet wird, dass sie 100.000 € zur Verfügung stellen werden. Auch die UNO-Flüchtlingshilfe in Bonn meldete sich, dass dort ein Antrag für Gelder gestellt werden könne, und plötzlich hatten wir 120.000 € zur Verfügung für erste Hilfen. Im August fuhren wir gemeinsam mit unseren Töchtern nach Lesbos und begannen direkt vor Ort Willkommenspakete für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Wir waren die Ersten, die Direkthilfe angeboten haben, und wir sind sehr stolz darauf.  Die Organisationen vor Ort haben die Küsten aufgesucht und auf die ankommenden Boote gewartet, um die ankommenden Geflüchteten zu versorgen. Irgendwann würde ein Boot ankommen, man müsse nur früh aufstehen, hieß es. Die Menschen bekamen Wasser, etwas zu Essen, Schokolade und Kekse für die Kinder. Später wurden von dem Geld auch Medikamente, Hygieneartikel und die Instandhaltung von Flüchtlingsunterkünften finanziert. Als wir wieder zu Hause ankamen, fiel der berühmte Satz von Frau Merkel: „Wir schaffen das“. Daraufhin kam nochmals eine enorme Dynamik in die Entwicklung. Es kamen nicht mehr 10.000 Menschen im Monat sondern manchmal mehrere Tausende pro Tag. Nicht mehr nur ein Boot in den frühen Morgenstunden sondern 10-15 Boote hintereinander am helllichten Tag.  Allein nach Lesbos kamen im Oktober wie auch im November 2015 300.000 Menschen. Was mir in Erinnerung blieb, war das Bild vom Hafen, der ganz voll war mit Ein- oder Zweimannzelten. Völlig überfüllt mit Menschen, die nicht wussten, wohin sie sollten. Alle öffentlichen Plätze waren voll mit Zelten. Es gab noch kein Camp, sodass es der einzige Zufluchtsort innerhalb der Stadt war. Bis Ende August 2015 durfte niemand mehr die Insel verlassen. Wenn man über die Insel ging, traf man auf Menschen, die zu Fuß über die Insel gingen. Die Insel ist relativ groß. Die Menschen gingen zu Fuß vom Norden bis zum Hafen, das sind 60 km. Man durfte keine Menschen mitnehmen, hätte man das getan, hätte man als Schlepper gegolten. So konnte man auf eigene Gefahr z. B. Familien mit kleinen Kindern entlasten. Man durfte auch keine Busse einsetzen, um die Menschen zu fahren. So hatten wir Wasser gekauft und an die Leute unterwegs verteilt. Aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit vor den Augen der Touristen vor Ort wurde es schließlich ab Ende August erlaubt, auch Busse und private Autos einzusetzen. Mit einem Teil des Geldes haben wir z. B. an einem Tag ca. 800 Personen mit dem Bus vom Norden zur Hauptstadt gebracht. Natürlich entstand dadurch ein großer Druck in der Hauptstadt. Am nächsten Morgen waren allerdings die nächsten angekommen, und der Platz war wieder halbvoll.


Bist du die Busse auch gefahren oder wurden die Fahrten von euch organisiert?

Es wurde von uns organisiert. Meine Frau ist in der Politik aktiv und hat bei der Polizei angerufen und Druck gemacht, dass Busse eingesetzt werden. Es sei eine Schande, die Menschen zu Fuß über die Insel gehen zu lassen, zumal die Gäste und Besucher der Insel Bilder in die ganze Welt zu der aktuellen Lage geschickt haben. Daraufhin wurden Busse von privaten Unternehmen von uns bezahlt und eingesetzt, später auch von anderen Helfern vor Ort. Seitdem hat sich der Tourismus allerdings nicht erholt. Das war das, was mir insbesondere in dieser Zeit in Erinnerung geblieben ist. Im Oktober 2015 sind wir dann wieder nach Lesbos gefahren. Die Zahlen stiegen ständig weiter an, bis sie in November 2015 den Höchstwert erreicht hatten. Zur Linderung der Probleme trugen jetzt viele NGO´s bei. Allerdings agierten einige von ihnen unkontrolliert, waren unbekannt, hatten keine Referenzen und genießen bis heute nicht die Akzeptanz der örtlichen Bevölkerung. Deshalb war für uns wichtig, mit lokalen Organisationen und bekannten Mitgliedern der Zivilgesellschaft zu kooperieren, die sich mit den örtlichen Strukturen auskennen.


Du hast mitbekommen, wie die Insel plötzlich voll war und wie die Menschen mit den Kindern unterwegs waren. Gab es noch anderen Momente, die dich sehr bewegt haben?

Ja, das sind vor allem die Begegnungen mit einzelnen Personen. Mir bleibt zum Beispiel eine junge Dame in Erinnerung, die sich bei uns entschuldigte, dass sie uns solche Umstände macht. Das war komisch für uns. Sie war mit zwei kleinen Kindern unterwegs. Sie wollte zu ihrem Mann nach Schweden. Eine Familienzusammenführung wäre möglich gewesen, aber sie hätte lange darauf warten müssen. Daher entschied sie sich, alleine mit ihren Kleinkindern diese Fluchtroute zu nehmen. Meine Töchter haben unter zurückgebliebenen Habseligkeiten am Straßenrand Zeichnungen von Kindern gefunden. Statt ein Familienidyll mit Mutter-Vater-Kind vor schönem Haus mit Garten zu zeigen, zeugten diese Zeichnungen von Fluchterlebnissen wie z. B. die Zeichnung eines Elternteils, der seine Kinder an beiden Händen hält und dabei ist, in ein vollgepacktes Auto zu steigen. Mir sind vor allem auch die Ehrenamtler in Erinnerung geblieben. Die Jugend der Welt habe ich bewundert. Aus allen Teilen der Welt kamen Ehrenamtler und haben geholfen. Teilweise gingen sie von einem Camp zum anderen, um zu helfen. „…ich schlafe am Strand und mein Geld investiere ich hier für die Flüchtlingshilfe“ sagte ein ehrenamtlich engagierter Holländer. Ein schöner Moment: da war eine junge Irin. Sie war auch nach Lesbos gegangen, vorher war sie in Palästina. Es war in der Nacht, als wir auf dem Platz mit den vielen Menschen waren. Plötzlich hörte sie eine sehr bekannte Stimme hinter sich, sah sich um und sie entdeckte eine Syrerin, die sie damals in Palästina kennengelernt hatte. Die Dame aus dem Nahen Osten war Journalistin. Sie hatten sich im Rahmen ihres damaligen Einsatzes kennengelernt. Sie hatte so eine charakteristische Stimme, dass sie sie unter den 800 Menschen heraushörte.


Das ist ja ein schöner Moment und danke für die geschilderten Eindrücke!
Abschließend noch eine Frage zu Solingen. Wie erlebst du die Aufnahme- und Spendenbereitschaft sowie das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an der Situation in Lesbos.

Als die ersten Busse 2015 vor dem Rathaus standen, waren die Aufnahmebereitschaft und die Hilfsangebote der Solingerinnen und Solinger immens. Es gab direkte Hilfe vor Ort von Ehrenamtlern, der Stadt Solingen, den Wohlfahrtsverbänden und anderen Akteuren in der Stadt. Alle haben sich zusammengefunden und Aufgaben verteilt. Im Mehrgenerationenhaus konnten wir uns kaum retten vor Hilfsangeboten von Ehrenamtlern. So konnten wir die Situation sehr gut bewältigen. Die Spendenbereitschaft ist nach wie vor sehr hoch. Sie ist abhängig von der Situation vor Ort. 2015 war ein erster Moment. 2019 bis 2020 war ein weiterer Zeitraum, in dem im besonderen Ausmaß gespendet wurde. Die Evangelischen Gemeinden und der Ev. Kirchenkreis Soingen haben immer Kollekten für unser Projekt gesammelt. Herr Koss, ehemaliger Geschäftsführer des Diakonischen Werkes, hat 2019 im Rahmen seiner Verabschiedung 7.000 € für Lesbos gesammelt und diese persönlich nach Lesbos gebracht. Aber auch in der Zwischenzeit gingen regelmäßig Spenden ein, mittlerweile aus ganz Deutschland von Menschen, die wir nicht kennen und unser Projekt unterstützen. Auch Dr. Christoph Zenses erfährt in seinem Projekt „Solingen hilft e. V.“ eine große Spendenbereitschaft. In diesem Zusammenhang ist mir noch wichtig zu sagen, dass der Ev. Kirchenkreis Solingen sich dafür eingesetzt hat, dass Solingen sich für die Initiative „Sichere Häfen“ engagiert und der Oberbürgermeister Tim Kurzbach hat daraufhin im Rahmen der Synode eine Beitrittserklärung der Stadt Solingen unterschrieben. Es müssen sich auch mehr europäische Länder bereit erklären Flüchtlinge aufzunehmen, um Griechenland zu entlasten.


Hat sich die Art der Hilfsmaßnahmen im Laufe der Zeit verändert?

In der ersten Zeit ging es uns vor allem um die Grundversorgung und die Unterbringung der Menschen vor Ort. In den letzten Jahren ging es vor allem darum, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und allein reisende Frauen zu unterstützen, damit sie in ihrer Untätigkeit eine Beschäftigung haben. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit heute liegt darin, Bildungsmaßnahmen für die Gruppen zu organisieren, die vor Ort ausharren müssen. So wurde z. B. die Selbsthilfegruppe „WAVE OF HOPE“, die aus engagierten Geflüchteten außerhalb und innerhalb des Camps Moria eine provisorische Schule ins Leben gerufen hat, unterstützt.  Unsere Kooperationspartner vor Ort haben mit unserer Hilfe Lehrmaterial für die Schule zur Verfügung gestellt. Wie so Vieles ist die Schule leider dem Brand zum Opfer gefallen. Das war die Arbeit der letzten Jahre vor Ort. Aktuell, also mit den zuletzt gespendeten Geldern, können wir Nahrungsmittel, Wasser und Spielzeug für die Kinder zur Verfügung stellen. Es leben dort viele Familien mit kleinen Kindern.


Das heißt, die aktuellen Spenden werden überwiegend für existenzielle Bedarfe zur Verfügung gestellt?

Ja. Die Menschen vor Ort versuchten immer, so gut wie möglich ihr Leben vor Ort selbst zu organisieren. Sie bauen sich z. B. Öfen zum Brot backen. Sie backen das Brot zum eigenen Verzehr, verkaufen es aber auch. Dafür benötigen sie auch entsprechende Geräte, und diese stellen wir zur Verfügung, damit sie nach dem Brand wieder einen Teil des Selbstwertgefühls zurückbekommen. Auch mit den Bildungsmaßnahmen und die Arbeit mit den jungen Menschen wollen wir wiederstarten, sobald die Umstände es erlauben.


Also Sachen, die zur Selbstversorgung notwendig sind?

Ja, wie 2015.


Man fängt gefühlt wieder von vorne an?

Ja, aber mit dem Unterschied, dass damals die Leute nicht lange geblieben sind. Heute müssen die Menschen mit einem längeren Aufenthalt zurechtkommen. Die Hoffnung ist, dass, wie ich bereits zu Anfang sagte, diejenigen, die Asyl bekommen oder asylberechtigt sind, die Insel wieder schnell verlassen dürfen. Die Menschen, die schließlich asylberechtigt sind, haben allerdings ab diesem Moment keinen Anspruch mehr auf europäische Sozialleistungen, weder auf das kleine Taschengeld, welches sie bis dahin bekommen hatten, noch auf eine bezahlte Unterkunft. Meine Befürchtung ist, dass, wenn zu viele Menschen dann auf das Festland kommen, sie keine sichere Unterkunft finden werden. Dann – wie schon laufend passiert – kommen sie wieder zurück nach Lesbos, weil trotz allem, auch wenn das eigenartig klingt, die Situation dort besser ist.


Ich glaube, wir könnten noch eine Stunde dranhängen, um alles zu hören, was zu erzählen ist.

Es gibt tatsächlich vieles zu erzählen, aber meine Zerrissenheit bleibt. Ich fühle mich sowohl den Geflüchteten als auch den Bürgern von Lesbos verpflichtet. Beide Seiten leiden unter der Situation, wie sie sich im Moment darstellt. Die politische Situation vor Ort hat sich verändert. Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden. Es gibt auch unschöne Erfahrungen und Entwicklungen, die die Situation nicht leicht machen. Ich versuche aber immer, die positiven Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Ich werde nie vergessen, wie aufopferungsvoll und beeindruckend die Hilfsbereitschaft der Bürger und Bürgerinnen von Lesbos war und noch ist, trotz der Wirtschaftskrise und eigenen Zukunftsängste.


Du bist seit Jahren
ganz nah dran und ich vermute, du wirst dranbleiben bei allen Veränderungen.

Von meiner inneren Einstellung werde ich dranbleiben, denn ich sehe es als eine Verpflichtung.


Dein soziales Engagement als auch deine genauen Kenntnisse der Lage auf Lesbos sind unglaublich hilfreich für die Menschen.

Man muss irgendwann mal wieder hinreisen, das fehlt mir derzeit. Ich war ein Jahr lang Corona bedingt und zum Schutz meiner Eltern nicht dort. Es ist etwas anderes, die Situation aus der Ferne zu betrachten und etwas anderes vor Ort zu sein


Du koordinierst aber viel, bewegst viel und bringst es an die Öffentlichkeit.

Ich danke dir sehr für das Interview!

 

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Unterstützungsmöglichkeiten

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Spendenkonto:

Diakonisches Werk
des Ev. Kirchenkreises Solingen
Stichwort „Lesbos“

Stadtsparkasse Solingen
IBAN: DE45 3425 0000 0000 0288 03